Ein Rezept für bessere Laune

Samuel traf ich schon in der ersten Klasse. Wir blieben zusammen bis zur Vierten. Da es für ihn die Vierte zweimal gab, waren das insgesamt fünf Jahre. Es ist schön, ein Kind über einen langen Zeitraum zu begleiten. Die Beziehung ist vertraut und oft entspannt. Man hat seine Regeln miteinander ausgehandelt, deshalb wird das Fahrwasser zunehmend ruhiger. Häufige Wechsel der Erwachsenen sind für eine verunsichertes Kind eine Herausforderung, auf die häufig mit Sturm reagiert wird.

Wer explodiert am meisten?

Bei Samuel war ich wirklich lange. Eines seiner großen Themen waren die wiederkehrenden Konflikte mit allen großen und kleinen Menschen der Umgebung. Eigentlich ließ er niemanden aus. Jeder wurde irgendwann bedacht mit Provokation und Streit und Schimpfwortkanonaden, die sich gewaschen hatten. Die kleine Mitschülerin aus der Ersten, der Fußballkumpel vom Schulhof, der Freund des Bruders, Erwachsene und Kinder in der Koranschule, der Fußballtrainer, die Oma, die gesamte Schulklasse, die LehrerInnen, die Schulbegleiterin… Wer noch Schimpfwörter lernen wollte, konnte das bei Samuel tun. Wer lernen wollte, was alles zum Anlass für einen Streit werden kann, auch.
Weniger einfach waren Stillsitzen, Zuhören, Mitreden und Reden, Lesen, Schreiben, Rechnen. Diese wurden binnen kurzer Zeit zu einer Herausforderung. Zugegeben: die Startbedingungen in dieser Klasse waren nicht optimal. Dafür konnte er nichts. Er konnte auch wenig daran ändern, dass die Nächte mit vielen Kindern in seinem Kinderzimmer zu unruhig waren. Häufig war er so unausgeschlafen, dass er im Sitzkreis in sich zusammen sackte.
Viele Male war die Wut so schlimm, dass wir nichts tun konnten, als gemeinsam abzuwarten.
Wenn zur Abwechslung mal keine Wut, keine Trauer, keine schlechte Laune und keine bleierne Müdigkeit da waren, hatten wir auch gute Zeiten.

Endlich lesen gelernt

Gemeinsam schafften wir es nach langer Zeit doch, dass Samuel sich konzentrieren konnte. Er fing an zu rechnen und lernte mühsam Buchstaben und Lesen. Zum Glück bekam er eine Ehrenrunde genehmigt. Beim Wiederholen der Vierten – unter den Augen zweier toller LehrerInnen in einem ruhigen, stabilen Klassenverband festigte sich sein Können. Er konnte nun wirklich Lesen! Hurra, das war ein echter Sieg. Er las mit Neugierde und Spaß Bücher mit Kindergeschichten.

Auf und Ab

Die Streitereien blieben trotzdem seine Begleiter. Zwar waren sie inzwischen manchmal schneller beigelegt als früher. Die schlechte Laune verstrich auch schneller. Hatte sie früher tagelang angedauert, so waren es jetzt meistens nur noch ein Tag oder wenige Stunden bis Samuel wieder kontaktfähig war. Einige Zeit zum Runterkommen – in der Unterricht unmöglich war – brauchte es trotzdem immer noch.

Das kann ich richtig gut!

Neulich traf ich ihn nach einem Streit mit Klassenkameraden in einem Nebenraum. Er hatte sich zurückgezogen, weil er noch sauer war. Das war schon gut. Viel besser als eine weitere Eskalation.
Ich setzte mich wortlos neben ihn. Ich wusste: Reden bringt ihm dann nichts. Nach einer ganzen Weile zog ich ein kleines Heft aus der Tasche, das im Buchladen umsonst für Kinder ausliegt.

Wortspiel


Ich habe häufig solche Hefte in der Tasche. Wenn Kinder Langeweile haben freuen sie sich darüber.
Stumm reichte ich das Heft hinüber und Samuel nahm es zögernd und genauso wortlos an. Er blätterte eine Weile, bis er auf eine Seite mit einem Wörtersuchspiel stieß, die ihn interessierte. Ohne zu reden reichte ich ihm einen Stift. „Ja, ich glaube, das kann ich wirklich gut!“ sagte er auf einmal. Er löste das Rätsel. Als er fertig war, hatte sich auch die Laune gelöst.  Von selber sagte er: „Das könnte ich doch jetzt immer machen, wenn ich hier sitze und Streit hatte.“ Ich stimmte ihm zu. Eine wirklich gute Idee, um wieder runter zu kommen vom Ärger und Stress.
Anschließend ging er in seine Klasse und machte wieder beim Unterricht mit.

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