Waldlauf

Dieser Mittwoch ist kein normaler Mittwoch in der 5b. Es ist Waldlauf, im Stadion am Stadtpark, für alle 5ten Klassen der Schule. Und für alle Schüler eine willkommene Abwechslung- keine Schule, also auch kein normaler Unterricht- chillig! Die ganze Klasse freut sich schon und alle überlegen hin und her, was sie einzupacken und wie sie sich vorzubereiten haben.

Nur Nils und ich, wir freuen uns nicht. „Muss ich da andere Sachen anziehen als sonst?“, „Wo muss ich morgens hingehen?“, „Wann werden wir wieder zurück sein?“, fragt Nils mich panisch. Nils ist Autist, und für ihn sind besondere Ausflüge vor allem Eines: besonders unangenehm. Und für mich als Schulbegleitung bedeutet das: Alles genau planen, sehr wachsam sein und stets für meinen Schützling zur Verfügung stehen, damit er den Schulausflug vielleicht wenigstens ein bisschen genießen kann.

Die Anfahrt zum Ort des Geschehens mit dem Bus gestaltet sich recht angenehm- Nils ergattert mit seinem Freund Julius (die beiden sind im Übrigen unzertrennlich) einen Sitzplatz und wir kommen in guter Stimmung und ohne besondere Vorkommnisse zum Stadion.
Hier bricht dann allerdings die Hölle los: Tausende Kinder verschiedener Schulen haben sich auf den Stufen vor der Laufbahn versammelt, wild umherlaufende Lehrkräfte versuchen, Laufgruppen mit Startnummern zu versorgen und dabei tunlichst zu verhindern, dass die Kinder sich mit den dazugehörigen Sicherheitsnadeln verletzen. Nils Augen werden groß und ich ahne, was gerade in seinem Kopf vorgehen muss: ‚Zu viele Leute, kein sicherer Platz für meinen Rucksack, ich werde meine Klasse nicht wiederfinden, ich will nicht, dass die Nadeln Löcher in mein T-Shirt machen, es ist viel zu laut, ich weiß nicht, wo ich hin muss, wann werden wir laufen, WO IST ÜBERHAUPT
 DIE STRECKE?‘

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Er guckt mich an: „Kannst du mir versprechen, dass Du auf meinen Rucksack aufpasst? Kannst Du ihn auf deinen Rücken schnallen und nicht wieder loslassen? Und wo kriege ich eine Nummer her? Mit wem laufe ich denn in einer Gruppe?“

Ich bin beeindruckt- Er will es versuchen, er will wirklich mitlaufen, obwohl er abgesehen von allen sowieso schon besonderen Bedingungen noch dazu übergewichtig ist und sich nur äußerst mühsam bewegt. Ich helfe ihm, alles Wichtige herauszufinden und versichere ihm, dass ich auf seinen Rucksack Acht geben und im Ziel auf ihn warten werde. Ausgestattet mit seiner Startnummer, welche ich unter Aufwand all meiner Überzeugungskraft doch noch mit Sicherheitsnadeln befestigen durfte, macht Nils sich auf den Weg zum Startpunkt.

Ich warte im Ziel…schon seit über 40 Minuten, Nils Rucksack über meinen eigenen geschnallt, und werde langsam unruhig.
„Naaa, wo bleibt er denn?“, fragt mich die Klassenlehrerin interessiert, „der kommt doch bestimmt als Letztes ins Ziel.“ Ich werde unsicher. Vermutlich hätte ich mitgehen, den Weg mitlaufen und dabei bleiben sollen. Aber das hätte seiner Bitte widersprochen, bei seinem Rucksack zu bleiben und auf seine Sachen aufzupassen. Da, plötzlich, sehe ich ihn, wie er um die Ecke gebogen und in Richtung Ziel gerannt kommt. Sein Kopf ist hoch rot und als er sieht, dass alle dastehen und ihn sehen können, fängt er an, noch schneller zu rennen und mit seinen letzten Kräften wie ein Pfeil ins Ziel zu schießen.

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 Schnell laufe ich zu ihm, um ihm seine Sachen zu bringen und ihm möglichst schnell zu signalisieren, dass er gerade Großartiges geleistet hat. „Hast du meinen Rucksack?“, brüllt er mir besorgt entgegen, und ich drehe mich um, damit er ihn sehen kann. Sofort entspannen sich seine Gesichtszüge

„Ich bin ganz schnell gelaufen, hast du gesehen? Ich hab meine Beine zum Schluss kaum mehr gespürt, ist das normal? Ich bin noch vor Oliver ins Ziel gekommen. Und ich hab noch eine Frage: Ich bin mit Julius gestartet, aber der wollte nicht richtig laufen, nur gehen, aber ich wollte doch laufen, und dann habe ich ihn zurückgelassen, war das falsch? Wo ist Julius jetzt? Ich hab ihm gesagt, ich kann nicht warten, ich will so gerne gewinnen!“

Später kommt die Klassenlehrerin zu uns und lobt Nils: „Klasse, wie du bis zum Ende mitgelaufen bist!“, und Oliver gibt zu, „Du warst schneller als ich, das hätt ich nicht gedacht, nice Bro!“ Nils ist sichtlich stolz, auch wenn er nur noch nach Hause will und schon wieder besorgt seinen Rucksack sortiert…es könnte jederzeit etwas verloren gehen. Aber die stolzeste Person dieses Ausfluges, die bin wahrscheinlich Ich.

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