Bisher hatte sie immer gedacht, sie wäre krank im Kopf

Schulbegleitung als Methode zur schulischen Inklusion „schwieriger“ Kinder

Ein begleiteter Schultag aus der Sicht von Linda

Für Linda beginnt ein normaler Schultag. Sie geht in die Klasse, neben ihr läuft ihre Schulbegleiterin Anne. An ihrem Tisch holt sie gemeinsam mit Anne die passenden Schulsachen aus dem Ranzen, der Unterricht beginnt. Anfangs hatte Linda Angst, dass Anne jetzt immer neben ihr sitzen würde. AberAnne hat sich einen Platz ganz hinten in der Klasse gesucht, von wo aus sie alles sehen kann. Linda hört der Lehrerin zu, aber bald fällt ihr das schwer und sie kann nicht mehr still sitzen. Sie kippelt und redet mit den anderen am Tisch. Die Lehrerin ist langsam genervt und fängt an zu schimpfen. Linda will ihr jetzt am liebsten ihre Federtasche an den Kopf werfen. Anne sieht das und kommt ruhig an Lindas Tisch.

Anne kann ihr immer gut helfen, sich wieder auf ihre Aufgaben zu konzentrieren und gerade jetzt passt es besonders gut, denn Linda soll eine Partnerarbeit machen. Das fällt Linda besonders schwer. Anne schlägt vor, dass sie zu dritt arbeiten. Das findet Murat, Lindas Banknachbar, cool und gemeinsam erarbeiten sie jetzt das Arbeitsblatt.

Bevor Anne kam, haben sich die Kinder meistens geweigert, mit Linda zusammen zu arbeiten, denn Linda wurde schnellwütend und hat sie dann manchmal geschlagen, auch ihre Freunde. Mittlerweile haben Ärzte ADHS diagnostiziert, sie bekommt Medikamente und macht eine Therapie. Als Anne schließlich mit in ihre Klasse kam – als eine Art persönliche Begleiterin – fanden das alle erst ein bisschen komisch, dieKinder, die Lehrer und Linda selbst auch. Aber die anderenKinder fanden Anne nett und wollten bald auch selber gerne mit ihr arbeiten, was nur in Ausnahmefällen möglich ist, da Anne in erster Linie nur für Linda da ist. Dass ihre Klassenkameraden ein wenig neidisch sind, fand Linda cool und jetzt ist sie froh, dass Anne da ist.

Nach der Stunde ist große Pause und Linda fragt alle Kinder, ob sie mitspielen darf. Viele Kinder wollen das nicht, das macht Linda wieder wütend und eigentlich will sie die anderen dafür schlagen, aber Anne kommt um sie zu trösten und ihr Mut zu machen. Sie gibt Linda Tipps und sagt ihr, was für die anderen Kinder schwierig ist, damit Linda lernt, was sie anders machen kann. Manchmal redet Anne auch mit den anderen Kindern und dann darf Linda doch noch mitspielen, aber immer gelingt das nicht. Trotzdem gefällt ihr die Schule heute besser als früher, sie hat vielweniger Streit mit Lehrern und Schulfreunden und manchmal auch richtig Spaß.

Anne versucht ihr immer wieder zu erklären, was sie richtig oder falsch macht und worauf sie achten sollte. Aber sie spricht auch mit den Anderen darüber, was diese nicht richtig machen oder was unfair ist. Das findet Anne gut und auch komisch, das kannte sie bisher nicht. Sie hatte immer gedacht, dass nur sie das Problem für andere sei, dass sie krank imKopf wäre. Aber Anne zeigt ihr immer wieder, dass das nicht stimmt und dass auch die anderen an sich arbeiten müssen.Seitdem Anne da ist, gibt es auch zu Hause weniger Streit mitLindas Mutter, weil die Lehrer nicht mehr so oft anrufen, um sich zu beschweren. Nur manchmal, da findet Linda Anne genauso doof wie alle anderen, aber das ist sehr selten.

Als Vermittler Wege sichtbar machen

Wenn eine Schulbegleitung bewilligt wird, ist fast immer einelange, für alle Beteiligten unschöne und frustrierende Zeitvorangegangen. Als Vermittler zwischen den Interessen derverschiedenen Seiten – Schule und Lehrkräfte, Mitschüler,Eltern und das Kind selber – kann eine gut vorbereitete Person,die eben nicht für die Schule, sondern für das betroffeneKind und dessen Eltern arbeitet, sehr hilfreich sein. Sie kannneue Wege sichtbar machen und ggf. intervenieren, wenn eine Situation erneut an alten, nichtproduktiven und gewohntenVerhaltensweisen zu scheitern droht.

Die Schulbegleitung kann so eine entscheidende und oft auch schwierige Schlüsselrolle einnehmen. Dazu ist es aber wichtig, das fachlicheWissen der Schulbegleiter sicherzustellen, denn sonst scheitert die Idee der schulischen Inklusion an deren fehlendenKenntnissen und daraus resultierender Unsicherheit. 

Es istdarüber hinaus notwendig, die behördlichen Vorgaben so anzupassen,dass, neben den Kindern mit diagnostizierter geistigerund/oder körperlicher Behinderung, auch die Bedürfnisseder „von seelischer Behinderung“ bedrohten Kinder konzeptionellmit berücksichtigt werden.An dem Beispiel von Linda wird ersichtlich, dass Inklusion,insbesondere bei „KJHG-35a-Kindern“, nicht einfach durchdas Bereitstellen einer Schulbegleitung funktionieren kann, dieneben dem Kind sitzt, es kontrolliert und ihm hilft, Matheaufgabenzu lösen.

Alle Beteiligten müssen einbezogen werden und auch an sich, an den eigenen Haltungen und an den bisherigen Umgangsweisen mit dem „schwierigen“ Kind arbeiten.

Professionalisierung und kritische Distanz

Neben der Möglichkeit einer Schulbegleitung über einen Jugendhilfeträger haben Eltern und Lehrer, die häufig parallel auf der Suche sind, auch die Möglichkeit, Einzelpersonen einzusetzen.Diese Personen können dann bisher – auch ohne jegliche Vorerfahrung – auf Selbstständigen-Basis als Schulbegleiter tätig werden. Die fachlichen Gründe gegen ein solchesVerfahren können im Einzelfall aber schwer wiegen:Fehlender kollegialer Austausch und keine Supervisionen, wenig (insbesondere wenig kostenfreie) Qualifikations-,Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen und eine fehlende Rückendeckung durch eine übergeordnete Instanz im Krisenfall, können schnell in Orientierungslosigkeit münden.

Unsicherheit und ein fehlender fachlicher Austausch können wiederum dazu führen, Perspektiven und Erklärungsmuster von Eltern und Schulen zu übernehmen. Ohne einen eigenenStandpunkt werden Schulbegleiter so im schlimmsten Fall zu inoffiziellen „Hilfsklassenlehrern“, die jegliche kritische Distanz zur Institution Schule verlieren (bzw. sie gar nicht erst erlangen).Diese kritische Distanz ist unserer Meinung nachwesentlicher Bestandteil der Arbeit eines Schulbegleiters, sie ist notwendig, um im Sinne einer inklusiven Beschulung Veränderungsprozesse anzuregen, die auch nachhaltig Wirkungen erzielen können.

Die häufig als lukrativere Variante für den Einzelnen erscheinendeSelbstständigkeit entpuppt sich für Viele als Trugschluss:Weder Krankheitsfälle der eigenen Person, noch die des Kindes sowie sämtliche weiteren Ausfallzeiten – ganz zu schweigen von den Schulferien – werden entgolten. Jugendhilfeträger und andere Institutionen, können hier eine erheblich gesteigerte finanzielle Sicherheit bieten.

Auch wenn ein Zusammenschluss von Schulbegleitern unter dem Dach eines Trägers also viele Vorteile bringt, sollte eineQualifikation für alle Schulbegleiter vor Beginn einer HilfeVoraussetzung sein. Rechtliche Grundlagen einer Schulbegleitung(Aufsichtspflicht, Nachteilsausgleich etc.), Kenntnisse über das jeweilige Krankheitsbild, Arbeitsmethoden, Verhalten im Konfliktfall und Konflikttraining, um hier nur einige relevanteAspekte zu nennen, können bei einem Träger lediglich sukzessive vermittelt werden. Gelder hierfür werden u.W. bislang nicht zur Verfügung gestellt. Ein entscheidender Schritt wäre die Einführung einer übergeordneten Schulbegleiter Qualifizierung, wie sie in manch anderen Bundesländern bereits praktiziert wird.

Nils Diers ist Kriminologe und Sozialpädagoge,
er ist Geschäftsführer von Nordlicht gGmbH

Nicole Jallow arbeitet beim gleichen Träger als Schulbegleiterin.

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